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Datenexperte Graham im Interview: "Salah wäre nicht Jürgens erste Wahl gewesen"

Waliser war Chef der Liverpooler Datenabteilung

Datenexperte Graham im Interview: "Salah wäre nicht Jürgens erste Wahl gewesen"

Liebe auf den zweiten Blick: 2017 kam Mo Salah zu Jürgen Klopp nach Liverpool - der Beginn einer großen Ära.

Liebe auf den zweiten Blick: 2017 kam Mo Salah zu Jürgen Klopp nach Liverpool - der Beginn einer großen Ära. IMAGO/Propaganda Photo

Elf Jahre lang gestaltete Ian Graham den Weg des FC Liverpool zurück in die Weltspitze als Chef der Datenabteilung mit. Seit Herbst 2023 will der Waliser mit seiner eigenen Beratungsfirma Ludonautics Sportvereinen mithilfe von Daten zum Erfolg verhelfen.

Herr Graham, wo befindet sich die Bundesliga in Sachen Umgang mit Daten?

Als ich 2015 erstmals mit deutschen Klubvertretern in Berührung kam, hatte die Bundesliga den Ruf, die technologisch modernste Liga zu sein. Man arbeitete bereits seit Jahren mit Trackingdaten, erst 2015 begann die Premier League damit. Ich referierte damals vor Analysten, und sie fanden es seltsam, dass ein Klub wie Liverpool einen Datenexperten in seinen Reihen hatte. Spulen wir mal vor ins Jahr 2024: In ein paar Bundesligaklubs arbeiten Datenexperten, in der Premier League sind sie flächendeckend unterwegs, weit vor der Bundesliga, auch Italien und die USA sind da weiter. Einzig La Liga hinkt hinter den Deutschen hinterher.

Was ist mit der Ligue 1 in Frankreich?

Auch sie wirkt fortschrittlicher. In jeder großen Liga gibt es einen Vorreiter in Sachen Daten. In Frankreich der FC Toulouse, in Italien die AC Mailand, in England Liverpool, Brighton, Brentford. In der Bundesliga gibt es da kein Vorbild. RB Leipzig wird oft genannt, aber ehrlich gesagt: Sie haben ihren ersten Datenexperten so um 2019 oder 2020 angestellt, und da ging es eher um Unterstützung fürs Scouting, nicht für die Entscheidungsfindung.

Ian Graham

Ian Graham war bei Liverpool Chef der Datenabteilung. Ian Graham

Wie viel Einfluss hatten Sie als Datenchef in Liverpool auf Jürgen Klopp bei Spielerverpflichtungen?

Spielerverpflichtungen sind das wichtigste Segment für Datenanalysten, schon allein deshalb, weil du deinen bestehenden Kader nach klarer Leistung beurteilen musst und Spielergehälter und Transferausgaben die größten Kostentreiber sind. Ich arbeitete eng mit dem ehemaligen Liverpooler Sportdirektor Michael Edwards zusammen. Wir haben Daten vor allem zum Filtern des Marktes benutzt, um aus 500 potenziellen Transferkandidaten eine Shortlist von vier, fünf Spielern zu machen. Da Jürgen aus dem deutschen Fußballsystem kam, war er wesentlich kooperativer als die klassischen englischen Trainer, die ja lange den Managergedanken wie früher Alex Ferguson oder Arsene Wenger in sich trugen.

Bei Roberto Firmino oder Sadio Mané waren die Daten entscheidend.

Ian Graham

Wie darf ich mir eine Diskussion mit Klopp vorstellen, wenn es um einen Spieler geht?

Die führte in der Regel Michael (lacht). Sie haben sich immer fair ausgetauscht, Jürgen hatte natürlich einen speziellen Blick auf Deutsche als Kind der Bundesliga, es ging aber immer um Überzeugung. Mo Salah wäre 2017 nicht Jürgens erste Wahl gewesen, er hat das selbst sogar schon eingeräumt (lächelt). Da mussten Michael und das Scouting ihn erst überzeugen. Wir als Datenabteilung waren aber schon eine Stufe vorher dran, also kam es nie zu einer Diskussion zwischen uns.

Also wäre Salah ohne Datenanalyse kein Liverpool-Spieler geworden?

Doch, ich denke schon, denn Michael und das Scouting waren auch abseits der Datenanalyse bereits von ihm überzeugt. Bei Roberto Firmino oder Sadio Mané hat aber tatsächlich die Datenanalyse den Klub dazu gebracht, zu sagen: Diese Spieler sind unser Transferziel Nummer eins.

Sanio Mané, Roberto Firmino und Mo Salah

Sanio Mané, Roberto Firmino und Mo Salah bildeten ein gefährliches Offensiv-Trio bei den Reds. imago images/PA Images

Kam die Offenheit für Wissenschaft über die US-amerikanischen Eigner, die Fenway Group?

Ja, sie sind der Grund, warum ich einen Job in Liverpool bekommen habe. Ihnen gehören auch die Boston Red Sox, die dank guter Arbeit im Datenbereich die World Series gewonnen haben. Im Baseball ist der Einfluss von Daten größer, weil Rückschlüsse leichter funktionieren.

Wurden Sie kritisch beäugt vom Fußball-Establishment, als Sie als Doktor der Physik plötzlich ankamen?

Total, es fehlte komplett das Verständnis für die jeweils andere Seite, was wiederum verständlich war. Anders als im Baseball oder Cricket hat der Fußball keine lange Historie im Sammeln von spielentscheidenden Daten, weil es ja auch erst mal nichts über die Qualität sagt, wenn ein Spieler 100 Pässe spielt oder die weitesten Wege geht.

Letzteres kann man auch anders sehen …

Ich erzähle Ihnen mal eine Geschichte, die Michael Edwards in Portsmouth mitbekommen hat, wo er in den 2000er Jahren Chefanalyst war.

Es geht darum, die erfassten Daten nach ihrem wirklichen Einfluss auf das Spiel zu lesen und das zu nutzen.

Ian Graham

Bitte!

Es gab schon die Streckenerfassung, und der Trainer pinnte immer die Liste mit den Spielern an die Kabinentür, die am meisten liefen. Ein schlauer Spieler ist dann einmal bei einem Spiel immer die Linie entlanggerannt, wenn der Ball im Aus war. Der Trainer lobte ihn danach, der Spieler sagte: "So macht das doch keinen Sinn! Ich habe einfach betrogen." Was ich sagen will: Es geht darum, die erfassten Daten nach ihrem wirklichen Einfluss auf das Spiel zu lesen und das zu nutzen.

Wie tun Sie das? Etwa über Expected Goals oder Packing-Werte?

Bei einzelnen Spielern hängt das natürlich immer von der Position ab. Expected Goals tragen nur wenig bei, wenn man Mittelfeldspieler bewerten möchte, der Wert des Expected Possession Value (Englisch für „Erwarteter Ballbesitzwert“) dagegen schon. Vereinfacht gesagt, misst dieser die Wahrscheinlichkeit, dass die ballbesitzende Mannschaft ein Tor erzielt, bevor sie den Ballbesitz verliert. Das bedeutet, dass ein Spieler, der den Ball von seiner aktuellen Position aus in den gegnerischen Strafraum spielt, belohnt wird, weil die Chance auf ein Tor innerhalb des Strafraums höher ist als irgendwo im Niemandsland des Feldes an der Mittellinie. Der Expected Possession Value wird an allen Orten auf dem Spielfeld gemessen, und mit seiner Hilfe lassen sich Spieler- und Teamleistungen durchaus treffend einschätzen, auch wenn der Stürmer mal einen schlechten Tag hatte. Packing-Werte tragen übrigens zu einer genaueren Erfassung des Expected Possession Value bei.

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2019 holte Liverpool die Champions League. imago images / ZUMA Press

Schwirrt Ihnen bei der schieren Menge an Daten, die es heute gibt, nicht manchmal der Kopf?

Als ich im Fußball begann, wurden nur Schüsse, Fouls, Karten und Passquoten erfasst. Trackingdaten waren der nächste Schritt, dann kamen Packing-Werte und nun die Expected Values. All das lässt uns den Fußball besser verstehen, früher war es schwierig, die Old-School-Manager vom Sinn der Daten zu überzeugen.

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Warum haben Sie eigentlich die Reds verlassen?

Elf Jahre sind eine lange Zeit, glauben Sie mir, auch wenn das mein Traumjob war als Liverpool-Fan. Es ist einfach anstrengend, besonders wenn du auch noch Champions League spielst. Und meine Abteilung macht ja nicht mal die Auswärtsreisen. Aber kaum ist die Saison zu Ende, kommen wir in die Transferzeit, und da sind wir Analysten auch gefordert. Ich wollte einfach eine Veränderung.

Also haben Sie Ludonautics gegründet ...

Wir haben in Liverpool gezeigt, dass wir ein extrem erfolgreiches Team formen können, und das deutlich billiger als Manchester City, United oder Chelsea. Nur zwei andere Teams aus der Premier League nutzen Daten sinnvoll: Brighton und Brentford. Und das liegt daran, dass sie professionellen Zockern gehören (lacht). Ich glaube, es gibt großen Bedarf für externe Beratung, eine datengesteuerte Philosophie in die Klubs zu bringen.

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Wie geht das?

Wir haben neue Versionen der Tools gebaut, die wir schon in Liverpool hatten, um Klubs dabei zu helfen, hochleistungsfähige oder unterbewertete Spieler auf dem Transfermarkt zu finden. Dabei beraten wir auch Klubeigner und Sportdirektoren, wie Daten nicht nur ihr Scouting, sondern beispielsweise auch ihre Finanzplanung verbessern, indem wir Prognosen treffen zum Abschneiden und den daraus folgenden Anforderungen wie etwa einer zu verändernden Einkaufspolitik.

Wohin entwickelt sich die Datenanalyse im Fußball?

Ich kann nur für unsere Ausrichtung sprechen: Teamwork ist ein ungelöstes Problem. Wir haben ein bisschen was probiert in Liverpool mit dem Messen bestimmter ergänzender Fähigkeiten, das war erfolgreich. Und die Verpflichtung von Trainern wird ein großes Thema, weil es ziemlich schwer durch Daten vorauszusagen ist, ob Trainer A bei Verein B funktionieren wird.

Interview: Benni Hofmann

Dieser Text erschien erstmals am 11.3.2024 im kicker.